Missbraucht im Dritten Reich
 
 

Kara Ben Nemsi
 

Karl May
als Kara Ben Nemsi
Erdball Old Shatterhand
 
Karl May
als Old Shatterhand

»Er nahm in der literarischen Halbwelt jene katastrophale Wirklichkeit vorweg, vor der wir heute stehen; er war der große Prophet eines falschen Messias … Das Dritte Reich ist Karl Mays äußerster Triumph, die schaurige Verwirklichung seiner Träume.« [Klaus Mann: Cowboy Mentor of the Führer. In: The Living Age, Nov. 1940.]

Wie irrt sich doch  Klaus Mann! Völlig an der Realität vorbei, fällte er dieses Urteil. War es Unwissenheit, Fahrlässigkeit oder gar Neid, dem erfolgreichsten Schriftsteller deutscher Zunge nicht das Wasser reichen zu können? Diese Frage kann hier nicht beantwortet werden. Es muss aber Klaus Mann zugestanden werden, dass nach Mays Tod (März 1912) Dinge geschehen sind, die geradezu Irritationen herausfordern. In den Beiträgen einiger Chronisten lesen wir:

»Hitler las alle Bände von Karl May, von denen er im Febr. 1942 sagte, sie hätten ihm ›die Augen für die Welt geöffnet‹.« [J. C. Fest: Hitler. Frankfurt/m., Berlin, Wien 1973, S. 615.]

»Hitler klagte über die Unfähigkeit seiner Generale, selber solche Gedanken zu entwickeln. ›Diese Generale sind zu korrekt‹, schimpfte er nach einer Besprechung. ›Sie wurzeln in überholten Begriffen … Ihnen fallen keine Listen ein. Sie hätten mehr Karl May lesen sollen!‹« [David Irving, Hitler und seine Feldherrn, Berlin 1975, S. 57.]

»Noch heute greife er [Hitler] bei seinen nächtlichen Lesestunden in anscheinend aussichtlosen Situationen zu diesen Erzählungen, sie richten ihn innerlich auf wie andere Menschen ein philosophischer Text oder ältere Leute die Bibel.« [Albert Speer: Spandauer Tagebücher, Frankfurt/M. 1975.]

»Ich [Hitler] lese, da ich erst sehr spät nachts einschlafen kann, zur Zeit eine ganze Reihe der Karl-May-Bände … Wissen Sie, ich halte von dem Karl May sehr viel. Was haben die Schulmeister ihn doch angegriffen, statt zu erkennen, wieviele positive Werte seine Bücher enthalten. Ein echter Jugendschriftsteller, wie jeder andere Schriftsteller, – May schreibt ja auch für den Erwachsenen – muß eine reiche Phantasie besitzen, anständige Gesinnungen vermitteln und zeigen, was Lebenstüchtigkeit bedeutet. Vor allem aber muß er Humor haben. Und den besitzt Karl May in ebenso hohem Maße wie die Gabe der plastischen Anschaulichkeit.« [Hans Severus Ziegler: Adolf Hitler aus dem Erlebten dargestellt, Göttingen 1965, S. 76.]

Offenkundig hat Hitler die wahren Werte Mays, wie Ziegler irreführend kolportiert, nicht erkannt. Seine Ausführungen als ehemaliger NS-Funktionär und Redakteur der Tageszeitung ›Der Nationalsozialist‹ hinterlassen beim Lesen einen faden Beigeschmack, und erst recht die Äußerungen eines Holocaustleugners wie David Irving. Für all diejenigen aber, welche mit den Werken Karl Mays nicht vertraut sind, möglcherweise lediglich dem damaligen Zeitgeist angepasste Bearbeitungen kennen, scheint der Sündenbock – und den muss es einfach immer geben – gefunden zu sein: Karl May ist die Quelle aller Gräueltaten Hitlers!

Die Realität sieht natürlich völlig anders aus. Der Diktator las offenkundig über die pazifistischen Äußerungen des Dichters, dessen Engagement für unterdrückte Völker und ihre Religionen, völlig hinweg, so schrieb May beispielsweise über jüdische Pfandleiher:

»Habe ich nicht Recht, Sulamithleben? Habe ich nicht Recht, Gamaliel, mein Sohn?« meinte der Alte, ein begonnenes Thema fortsetzend. … »Wir wurden verachtet, verfolgt und getödtet. Unser Blut floß in Strömen … Das Licht des Tages war uns verboten …; darum arbeiteten wir im Dunkel der Nacht. Wir durften nicht Bürger werden; wir durften kein Haus, kein Feld, kein Stückchen Landes kaufen, welches so groß ist, wie der Teller meiner Hand. Da blieb uns nur der Handel offen …; wir hungerten, aber wir arbeiteten und sparten … Man sperrte uns in besondere Gassen, uns, den Abschaum der Gesellschaft; wir aber hatten in unseren Truhen Gold und Silber in Menge … Wir zahlten ungeheure Steuern, aber wir nahmen noch größere Zinsen. … Die Macht des Goldes erzwang uns endlich Gleichberechtigung, und nun konnten wir den offenen Kampf beginnen …« [Die Liebe des Ulanen, Dresden 1883–1885, S. 1411.]

Mit Recht spricht der bekannte Strafrechtler und Ehrenvorsitzende der Karl-May-Gesellschaft Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Claus Roxin von einem revolutionären Pathos der Unterdrückten, aus dem die gesellschaftliche Lage der Juden erklärt wird. [Claus Roxin: ›Die Liebe des Ulanen‹ im Urtext]

Auch als Verfasser exotischer Abenteuerromane setzte May sich für den Völkerfrieden ein:

»Nenne man nicht den Indianer einen Wilden. Er ist dasselbe Ebenbild Gottes, wie der Weiße, der sich doch unendlich höher dünkt.« [Waldröschen, Dresden 1882–1884, S. 1105.]

»Der Christ, der wahre Christ, muß unbedingt die Politik verdammen, welche eine ganze Nation dadurch zum Untergang zu bringen trachtet, daß sie die einzelnen Stämme gegeneinander aufhetzt und unter Waffen bringt.« [Ebenda, S. 1570.]

»Alle Menschen, die weißen und die schwarzen, sind Gottes Kinder.« [Die Sklavenkarawane, zitiert nach der Buchausgabe Stuttgart 1893, S. 206.]

»Unsre Religion gebietet uns, zu lieben anstatt zu hassen und selbst unseren Feinden Gutes zu erweisen.« [Ebenda, S. 340.] 

Besonders eindrucksvoll ist ein Abschnitt aus Mays Reiseerzählung ›Old Surehand‹:

Als früherem Cowboy stand dem alten Wabble ein Schwarzer fast ebenso tief wie ein Hund; es war ihm unmöglich, zu schweigen.
   »Was ist's mit Euch, Sir?« fragte er. »Ich glaube gar, dieser Bob bringt Euch aus dem Häuschen!«
   »Nicht er, sondern der Umstand, daß er Gefangener der Comantschen ist und umgebracht werden soll.«
   »Pshaw! Ein Schwarzer, ein Nigger!«
   »Nigger? Neger wollt Ihr wohl sagen, Mr. Cutter!«
   »Nigger sage ich. Habe das Wort all mein Lebtage nicht anders ausgesprochen.«
   »Das thut mir leid! Es scheint, Ihr rechnet die Neger nicht mit zu den Menschen.«
   »In der Naturgeschichte werden sie freilich mit unter den Menschensorten aufgezählt; wissenschaftlich sind sie also welche, aber, my god, was für welche!«
   »Jedenfalls ebenso gute wie alle anders gefärbten!«
   »Pshaw! Ein Nigger ist ein so niedriges Geschöpf, daß es sich eigentlich gar nicht lohnt, von ihm zu sprechen!«
   »Das ist Eure Ansicht, wirklich Eure Ansicht?«
   »Yes!«
   »Dann thut Ihr mir leid, herzlich leid, denn mit dieser Behauptung beweist Ihr, daß Ihr noch weit unter dem Nigger steht!«
   »All devils! Ist das Euer Ernst Sir?«
   »Mein vollständiger Ernst!«
   »Dann thut Ihr mir ebenso leid wie ich Euch! Ein farbiger Mensch ist nie ein richtiger Mensch, sonst hätte ihn Gott nicht farbig gezeichnet!«
   »Mit ebenso großem Rechte könnte ein Neger sagen: Ein Weißer ist kein richtiger Mensch, sonst hätte ihn Gott nicht ohne Farbe geschaffen. Ich bin etwas weiter in der Welt herumgekommen als Ihr und habe unter den schwarzen, braunen, roten und gelben Völkern wenigstens ebenso viel gute Menschen gefunden wie bei den weißen, wenigstens, sage ich, wenigstens! Versteht Ihr mich, Mr. Cutter?«
[[›Old Surehand I‹, Freiburg 1894, S. 240f.]
 

Karl May unterscheidet hier ausdrücklich zwischen ›Neger‹ und ›Nigger‹, denn das Wort ›Neger‹ ist lediglich die Übersetzung von ›Negro‹, was schwarz bedeutet. ›Neger‹=›Schwarzer‹ war zu Mays Zeit keine abwertende Bezeichnung. Dennoch wird ›Neger‹ heutzutage – teilweise aus Unkenntnis, teilweise aufgrund eines modifizierten Sprachempfindens – als abwertend und rassistisch angesehen. Ob ›Neger‹ oder ›Schwarzer‹ – wo ist aber letztlich der Unterschied? Grundsätzlich sollte die Hautfarbe eine unbedeutende Nebensache sein. Ist das Aussehen eines Menschen überhaupt erwähnenswert? Karl May war seiner Zeit voraus:

»Vor allen Dingen bin ich Mensch, und wenn ein andrer Mensch sich in Not befindet und ich ihm helfen kann, so frage ich nicht, ob seine Haut eine grüne oder blaue Farbe hat.« [›Old Surehand I‹ Freiburg 1894, S. 242]

Hitler und seine Gefolgsleute hatten die humanitäre Botschaft des sächsischen Dichters nicht verstanden und millionenfaches Unglück über die Menschheit gebracht. Anlässlich der Sommerolympiade 1936 in Berlin versuchten die braunen Machthaber, die ›schwarze Rasse‹ als ›Untermenschen‹ zu klassifizieren, weil sie zu viele Medaillen gewannen. Ihre menschenverachtenden Motive kann man nicht auf einen Pazifisten abwälzen, der bereits Jahrzehnte zuvor verstarb. Karl May war kein Ideenlieferant für das 3. Reich. Was wäre aber nach der Machtergreifung Hitlers geschehen, wenn sich der Diktator die mahnenden Worte des sächsischen Dichters zu eigen gemacht hätte? 

 

 
Lebendiger Kulturaustausch

Der Pazifist Karl May