Den Gipfel (...) bildet Karl May (1842-1912), der 1879 mit Fr. C. v. Wickede seine erste Erzählung Im fernen Westen herausgab. Von ihm ist die alte beliebte, wirkungsvolle Technik, einen Helden, der alle nur denkbaren Schwierigkeiten überwindet, in den Mittelpunkt zu stellen, auf die Spitze getrieben: Old Shatterhand im wilden Westen, Kara Ben Nemsi Effendi im Orient – immer ist’s Karl May selbst, der alle die unglaublichen phantastischen Abenteuer erlebt. Es ist dieselbe Technik wie in den Detektivromanen Nick-Carter, Sherlock Holmes u. dgl., wo dem Helden keine Situation zu schwierig, keine Gefahr zu groß ist: mit souveräner Sicherheit, mit nie versagender Kaltblütigkeit, mit übermenschlicher Kraft räumt er alle Hindernisse aus dem Wege. Die am Stoff klebenden Leser – nicht nur der Knabe, auch der Erwachsene, der zum künstlerischen Genießen noch nicht vorgedrungen ist – begleiten den gewaltigen Helden mit atemloser Spannung auf allen seinen Pfaden, nimmermüde, denn was der Held auch schon alles erlebt haben mag, im Ersinnen neuer verblüffender Abenteuer ist Karl May unerschöpflich. Zwar im Grunde ist’s immer dasselbe, was Karl May erzählt, ob er in den Cordilleren oder am Rio de la Plata, in den Schluchten des Balkan oder im wilden Kurdistan, im Lande des Mahdi oder in der Wüste seine Abenteuer erlebt. Alles ist so völlig unsinnig; keine Spur von einer Handlung, die sich auf folgerichtige Entwicklung gründet; keine Spur von Charakterschilderung, die auch nur entfernt auf Wahrscheinlichkeit Anspruch machen kann. Er hat, wie alle Vielschreiber, einige Menschenschablonen auf Lager, Bösewichter und Tugendbolde, die er hin und her schiebt, wie’s ihm gefällt. Oft kommt noch eine komisch sein sollende Figur hinzu, die aber nicht einmal grotesk, sondern nur albern wirkt. Aber fromm ist Karl May, wo’s geht und wo’s nicht geht, schachtelt er lange Sermone über das Dasein Gottes, über Gottes- und Nächstenliebe ein. Und da er sittlich Anstößiges seinen Schriften sorgfältig fernhält, so erklärt sich daraus vielleicht die Wertschätzung, die er in theologischen Kreisen genoß und wohl noch genießt.
(Geschichte der deutschen Jugendliteratur in Monographien von Herm. L. Köster. Dritte Auflage. Verlag von Georg Westermann, Braunschweig und Hamburg 1920, S. 308f.)