Schmiedt, Karl May oder die Macht der Phantasie

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rodger
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Schmiedt, Karl May oder die Macht der Phantasie

Beitrag von rodger »

Ich habe heute an einem wettermäßig durchwachsenen Urlaubstag das Buch komplett gelesen. Sehr lesens- & empfehlenswert. Einige Anmerkungen voraussichtlich morgen.
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rodger
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Re: Schmiedt, Karl May oder die Macht der Phantasie

Beitrag von rodger »

Schmiedt versteht etwas von May, kann sich in ihn einfühlen, kann nachvollziehen, wie und warum er so und nicht anders "tickte". Derlei wird bei einigen anderen Autoren, die ebenfalls über May sich auszulassen geruhen, des öfteren schmerzlich vermisst. (Mal mehr, mal weniger belangvolle Daten zusammenklauben ist das eine …)

In dem Zusammenhang gern vorab: Gartow wird richtig erkannt als schmerzlich einschneidendes Erlebnis mit Folgen, "May reist […] rasch ab, das Werk über den 'Alten Dessauer' bleibt […] ungeschrieben" (S. 166).

Apropos Dessauer, der ist einer der [insgesamt] wenigen Punkte, in denen ich anderer Meinung bin als Schmiedt, so harmlos sind diese Geschichten nicht, "Störungen und Schäden treten nur vorübergehend auf und können als Nichtigkeiten verbucht werden, üblere Belastungen […] müssen deutsche Untertanen längerfristig nicht in Kauf nehmen" (S. 75), immerhin geht es in diesen Texten um das Werberunwesen, werden Dinge wie Gewalt und Willkür in verblüffender Weise verharmlost und verniedlicht (ganz so verblüffend nicht mehr, wenn man den Dessauer angemessenerweise auch ( = nicht ausschließlich) als Spiegelung von Mays Vater betrachtet).

Ebenfalls anderer Meinung bin ich in Sachen Heilmann (S. 112), es muß keineswegs eine "Fehlleistung" Mays sein, ihn im Gefängnis zu "vergessen", er kann ihn sehr bewusst dort belassen haben, Angelegenheiten pflegen nicht immer gut auszugehen, einen befriedigenden Abschluß zu finden, im Leben nicht und nicht bei May. Dazu hat sich auch seinerzeit Hermann Wohlgschaft im "Beobachter an der Elbe" überzeugend geäußert.

Die genannte Einfühlsamkeit, das Verständnis, das Nachvollziehenkönnen schließt keineswegs Kritik und Distanz aus, so z.B. steht auf S. 50 sehr richtig "taugt er endgültig nicht für die Rolle eines rundum bemitleidenswerten Opfers, dem bitteres Unrecht geschehen ist". (Auch das Weitere auf S. 50 f: sehr gut.)

Sehr schön die Erklärung "fügt er ihnen durch die gründliche Integration autobiographischer Substanz 'wärmendes' Material hinzu" auf S. 69 in Sachen Singularität Mayscher Texte.

"May, der heute ein fleißiger Nutzer des Internets wäre, verfügt über die Fähigkeit, das entsprechende Informationsmaterial rasch auszuwählen und sich das Gelesene derart kreativ anzueignen, dass es die eigenen Texte ungeheuer wirkungsvoll bereichert – und er weiß, daß er diese Begabung ausgiebig nutzen muß." (S. 100)

Ganz hervorragend die Passage S. 121 / 122, so gut gesehen und erklärt hat es noch keiner. Schmiedt sieht May (im Zusammenhang mit den zahlreichen so unterschiedlichen Facetten seines Wesens und seines Werkes) in einer wirklich gelungenen Formulierung "als einen Spieler – keineswegs aber als einen Falschspieler".

Zum anerkennend wirkenden "Es dürfte […] ein singulärer Fall (usw.)" auf S. 126 fiel mir nebenbei ein, daß Schmiedt eine solche Formulierung schon einmal ganz ähnlich benutzt hat, mit vielleicht etwas anderer Konnotation, und zwar im Jahrbuch 1994 im Literaturbericht.

May bewege sich nach Erwerb seiner Villa in der "glücklichsten Phase seines Lebens" (S. 132), glaube ich nicht, nur äußerlich, und das ist nun mal halt nicht so relevant. Was nützen Geld, Villa und oberflächliche Anerkennung wenn du eben nicht wirklich "glücklich" (anspruchsvolles Wort …) bist … Vermittelt z.B. Old Surehand III den Eindruck eines glücklichen Menschen ? Nein. "Durch die Wüste" (um die fünfzehn Jahre vorher unter gänzlich anderen äußeren Bedingungen entstanden) vermittelt ihn, stellen- bzw. passagenweise.

Es "weist sein Insistieren, er gebe tatsächlich Erlebtes wieder, letztlich doch Elemente einer höheren Wahrheit auf" (S. 153). Na klar.

Daß ausgerechnet Schmiedt (bei anderen ist man allerhand gewöhnt, schmerzlich …) hundertundsieben Jahre nach Marie Silling mit dem Satz "der polyglotte Gelehrte weiß augenscheinlich nicht, dass dem Englischen die Unterscheidung zwischen den Anreden 'Du' und 'Sie' fremd ist" (S. 157) daherkommt, damit hatte ich wirklich nicht gerechnet … Lassen wir May selber antworten, er schrieb seinerzeit "und wenn ich an anderer Stelle das »thou« dem »you« einmal gegenübersetze, so geschieht es in einer höchst wichtigen, psychologischen Absicht, für welche Fräulein Silling kein Verständnis besitzen kann. Psychologische Rätsel durch verbotene persönliche Fürwörter zu beleuchten, das sind ja böhmische Dörfer! Wenn ich in meinen Erzählungen, um das Verhältnis zwischen Geist und Seele deutlich zu machen, das Innere des Menschen in mehrere befreundete oder gar verwandte Personen spalte, so habe nur ich allein, nicht aber diese Dame, die Anrede zu bestimmen, welche diesem Vergleiche angemessen ist." (Ein angedachter Smiley sei erwähnt, aber doch weggelassen.)

"Die Niederlagen im bürgerlichen Leben des Autors verwandeln sich in spektakuläre Triumphe des Ich-Helden, und dem lesenden Publikum bietet sich die Möglichkeit, daran auf seine Weise zu partizipieren. […] schaffen eine Atmosphäre des angenehm Vertrauten und laden zum Verweilen ein" (S. 182). Schön gesehen, und: eine gute Kombination von Nachvollziehen & kritisch beleuchten.

Warum sich May nicht mit Goethe vergleichen soll (S. 199 unten), erschließt sich mir nicht … Er hat das in aller Nüchternheit getan, sich seiner Grenzen wohl bewusst. An dieser Stelle spüre ich dann doch einmal eine Herabsetzung Mays, die mir nicht gefällt. Vereinzelt auch an anderen Stellen. (Mir muß nicht alles gefallen, schon klar … ich sag’s ja nur.)

Schön erkannt daß May immer dazu neigte, etwas Besonderes sein zu wollen … ob nun als Old Shatterhand in Kostüm oder ganz anders gelagert als Prozessopfer … (u.a. S. 230).

In Sachen "Himmelsgedanken" liegt Schmiedt leider auf der üblichen [[fad] verständnisfreien] Linie. Schade.

Interessant die Einschätzung auf S. 266, May als Autor eines Textes sicher anzunehmen, bei dem das als fraglich gilt, "unter dem Namen eines real existierenden Oberlehrers Franz Langer" (vgl. auch http://karlmay.agerth.de/maybuecher/rez ... 80&_sort=A).

Mays späte Selbsteinschätzung wird auf S. 270 f m.E. allzu kritisch gesehen, mit kaum überlesbarem ironisierenden Unterton, da ist mir Wollschlägers Sicht näher, der 1977 im Jahrbuch schrieb, daß May halt "den Gleichnischarakter seines Daseins erkannte".

Auch in Sachen Pollmerstudie bin ich anderer Meinung. Die ist halt krass, offen, deutlich, aber sie ist letztlich schon in Ordnung … (und "Selbstverherrlichung" sehe ich da eher nicht.) Man sollte nicht zimperlich sein, so etwas aushalten können … Kein Grund zur Aufregung bzw. zu solch starken Worten, als wär' da sozusagen sonstwas los. Alles 'halb so schlimm' ...

Sehr hübsch der Ausspruch von Robert Müller in Sachen Wiener Vortrag (S. 280). "Germanisten, Professoren und andere öde Kerle sind dagegen. Und alles Frischere und Buntere weiß ein Wörtchen pro zu sagen." Und wenn sie nicht gestorben sind …

Die eigentliche Biographie (das Kapitel "Karl Mays Nachleben" ist Anhängsel) endet erfreulicher- und angemessenerweise mit einer der interessantesten Aussagen Mays, wiedergegeben durch Robert Müller, meinerseits im Laufe der Jahre schon zur Genüge zitiert, die Sache mit den letzten Tiefen, den Abgründen und Verräterspalten, Grenzen, Rocky Mountains. Und dem Ahnen.

Daß Klara die Umbettung Richard Plöhns sozusagen aus freien Stücken betrieben habe (S. 290), ist mir neu, ich kenne eine andere Version dieser Angelegenheit.

Erfreulich die ausführlichen sachlichen Informationen zu den Bearbeitungen (im Schlusskapitel). Ich hatte aufgrund einiger freundlicher Formulierungen zuvor schon befürchtet, auch Schmiedt würde sich dem Trend zum Unter den Teppich kehren, Stillschweigen, Verharmlosen, Schönreden usw. anschließen, wie er seit einigen Jahren zu beobachten ist. (Gut daß es nicht so ist.) Interessant der Gedanke auf S. 323 unten / 324 oben (das verzerrte Erscheinungsbild Mays passe zu May selber …)

Insgesamt: sehr lesenswert. Unter allerhand Ödem, weitgehend Verständnisfreien, was man sonst so in Sachen May zu lesen hat, eine wohltuende Ausnahmeerscheinung.
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Tobias K.
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Re: Schmiedt, Karl May oder die Macht der Phantasie

Beitrag von Tobias K. »

Danke für die Rezension, das macht neugierig - sobald ich die Diplomarbeit durch hab ;) Und wenn ich jemals ein Buch über May schreibe - Du bist der erste, der mir Korrektur liest, sofern Du Zeit hast ;)

Ich hab jüngst den Illmer gelesen und genossen - den Böhm weniger...

Was den Heilmann angeht: Ich weiß, was Du meinst - aber ich frag mich da manchmal, wo man überhaupt die Grenze ziehen will. Wenn man jedoch (und ich bemerke vorab, dass Du selber da weit von enfernt bist, nur um Mißverständnisse zu vermeiden) May nach ganz oben hebt und alles für richtig hält, lässt sich nichts mehr analysieren und somit wenig verstehen. Kann man nicht annehmen, dass ihm die Handlungsfäden, die er in seinen großen Werken durchaus über Jahre hinweg routiniert bearbeitet, WEBTE (somit "Text" zu seinem Ursprung zurückführte) in Zeiten großer Anspannug und Belastung doch mal vom Schiffchen sprangen? Andererseits muss man auf einer Ebene von Verständnis auch Absichten anerkennen, die man selber nicht für wirkungsvoll hält. Hm...

Soweit in Kürze, mehr falls ichs demnächst lesen kann und eine eigene Meinung habe. :)

P.S.: Ich las ja erst "Unter allerhand Ödem..." und dachte an Chemotherapie... Wäre so falsch jedoch auch nicht bei dem Wust an Schrott und Schwachsinn, den das Jubiläumsjahr an Land schwemmen wird. Hmpf...
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rodger
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Re: Schmiedt, Karl May oder die Macht der Phantasie

Beitrag von rodger »

tragophil hat geschrieben:
Was den Heilmann angeht: Ich weiß, was Du meinst - aber ich frag mich da manchmal, wo man überhaupt die Grenze ziehen will. Wenn man jedoch (und ich bemerke vorab, dass Du selber da weit von enfernt bist, nur um Mißverständnisse zu vermeiden) May nach ganz oben hebt und alles für richtig hält, lässt sich nichts mehr analysieren und somit wenig verstehen. Kann man nicht annehmen, dass ihm die Handlungsfäden, die er in seinen großen Werken durchaus über Jahre hinweg routiniert bearbeitet, WEBTE (somit "Text" zu seinem Ursprung zurückführte) in Zeiten großer Anspannug und Belastung doch mal vom Schiffchen sprangen?
Gewiß. Das ist ihm sicher des öfteren passiert. Auch andere Ungenauigkeiten.

Aber im vorliegenden Fall bezweifle ich das stark. Auszuschließen ist es nicht, daß er den Heilmann "vergessen" hat, aber ich glaube es wirklich nicht. Vergleichbares geschieht mit Auguste Beyer im gleichen Roman und dort von der Heilmannhandung nicht allzu weit weg. Im Bamberger Band 76 ist das geändert, und dazu schrieb seinerzeit - Schmiedt (in einem Literaturbericht in einem Jahrbuch der KMG):

„Von den Veränderungen profitiert in erster Linie Auguste Beyer, die als Kindsmörderin ins Gefängnis gesteckt wird und im Original dort verbleibt; dank mildtätiger Bearbeiter gelangt sie nun in den Genuß eines erfolgreichen Gnadengesuchs und sozialtherapeutischer Hilfsmaßnahmen – wieder einmal ist Ardistan schöner geworden!“

was sich nicht so liest als halte er ihren Verbleib im Gefängnis für ein Versehen Mays, insofern wundert es mich etwas daß er das jetzt in Sachen Heilmann annimmt.
tragophil hat geschrieben:P.S.: Ich las ja erst "Unter allerhand Ödem..." und dachte an Chemotherapie... Wäre so falsch jedoch auch nicht
:mrgreen:

Das "Ödem" ist sehr hübsch, war aber in dieser Doppelsinnigkeit meinerseits [leider] nicht beabsichtigt ... es gibt wirklich schöne Dinge in der Hinsicht. Die von Dir zitierte Angelegenheit mit dem Anzug von Old Firehand, "Gunter Sachs - ein Mann der bewegt hat", so wörtlich am Ende eines Fernsehnachrufes, oder vorgestern der (84jährige) Dieter Hildebrandt bei seinem umjubelten Auftritt hier in der 'Alten Feuerwache', da sprach er (u.a. ...) davon, er habe das Thema Inkontinenz "elegant umschifft" ...
tragophil hat geschrieben: bei dem Wust an Schrott und Schwachsinn, den das Jubiläumsjahr an Land schwemmen wird.
Da wir über Jahre in der Hinsicht gut vorbereitet, trainiert, eingewöhnt wurden, werden wir auch das aushalten ... da sieht man mal wieder, alles hat doch auch sein Gutes ...

:D
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Abu Seif
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Re: Schmiedt, Karl May oder die Macht der Phantasie

Beitrag von Abu Seif »

lese auch gerade die Biographie. Finde sie sehr flüssig geschrieben. Den Inhalt kann ich nicht so beurteilen, da mir da einiges an Basiswissen fehlt.
Aufgefallen ist mir gerade diese kleine Ungenauigkeit.
Schmiedt schreibt auf Seite 160, dass Prinzessin Lucie von Schönburg-Waldenburg jenem Hause angehört deren Untertan May war und von dem er bei seiner Ausbildung finanziell unterstützt wurde.
Das ist meines Wissens nach ungenau, da Ernstthal auf Gräflich Schönburgisch-Glauchau-ischem Territorium lag. Die Fürstlich Waldenburg-ische Linie hat May auch keinen Zuschuss bewilligt, dieser kam wieder von seinem Gräflichen Landesvater.
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