Hallo zusammen!
Es gibt im aktuellen Kritikerwesen diese Tendenz zur sog. „emphatischen Kritik“. Nicht objektive, nachvollziehbare Gründe bestimmen den Tenor einer solchen „Kritik“ sondern das Bauchgefühl des Rezensenten.
Dies hat für den Rezensenten den Vorteil, dass er nicht wirklich begründen muss, was er sagt. Für den Leser hat’s den Vorteil, dass er nicht wirklich selber überlegen muss, sondern sich sagen kann: „Ich habe denselben Geschmack wie Frau Heidenreich – also ist auch dieses Buch wohl wirklich gut!“ Und das erklärt wohl auch den Erfolg von Heidenreich & Co.
Diese Art von Literaturbetrachtung beinhaltet vor allen Dingen eines: Die Identifikation von Autor und Werk. Nur so kann ich mir erklären, dass Frau Heidenreich, die wohl prominenteste Vertreterin der emphatischen „Kritik“, gegen Martin Walter und Grass nicht (die unbestritten vorhandenen) Schwächen im Werk vorbringt, sondern deren Werke pauschal und auf den Menschen und eben nicht das Werk zielend als „Literatur grässlicher alter Männer“ (und ähnlich) abtut. (Und wohl noch glaubt, ein witziges Wortspiel getätigt zu haben ... )
Und natürlich funktioniert die Identifikation auch in der andern Richtung: Solche „Kritiker“ werden eine Kritik an ihrer „Kritik“ immer als Kritik an ihrer Person werten. Und folgerichtig denn auch beleidigt sein. Und, da sie sich persönlich kritisiert fühlen, daraus das Recht ableiten, auch ihrerseits den Kritiker der „Kritik“ persönlich zu attackieren.
Im übrigen macht es auch keinen Sinn, sich mit solchen „Kritikern“ herumzustreiten, da sie als ihre feste Burg immer das Argement haben, dass sie es eben so fühlten. (Sich dabei – offen oder versteckt – natürlich das bessere oder feinere Gefühl zuschreibend als dem Gegenüber. Gerne dabei auf Goethe zurückgreifend und das obligate Faust-Zitat missbrauchend.)
Hat der emphatische „Kritiker“ dann allerdings einen Autor für gut empfunden, schreckt er auch vor gröbster Beweihräucherung desselben nicht zurück. Wer mit dem emphatischen „Kritiker“ gleicher Meinung ist, und vielleicht auch noch aus dem Bauch heraus operiert, wird gleich mit beweihräuchert.
Dass die Karl-May-Szene für solches extrem anfällig ist, verwundert mich, ehrlich gesagt, nicht.. Zum einen hat das reine Fandom schon immer das Werk mit seinem Autor verwechselt. Und umgekehrt. Zum andern sind eben selbst die Arbeiten, die die Abkehr vom reinen Fandom und eine Hinwendung zu substantiellerer Beschäftigung mit Karl May signalisieren, immer noch Texte, die sich mit dem Verhältnis vom Autor zum Werk beschäftigen. Sowohl Arno Schmidts „Sitara und der Weg dorthin“ wie die erste seriöse Biografie von Wollschläger drehen sich um diesen Themenkreis. So ist die Karl-May-Forschung von Anfang an auch in ihren wissenschaftlich relevanten Aspekten in grossen Teilen biografische Forschung gewesen und immer gebleiben.
Und für Fandom wie Emphatiker ist es vom Biografen zum Hagiografen immer nur ein winziger Schritt.
Wehe also, man wagt es, Karl May einer Schludrigkeit zu zeihen und in der Verwendung (z.B.) einer falschen Endung oder einer falschen Anrede nicht die raffiniertesten Hintergedanken zu sehen bzw. zu erfühlen. So, wie die Heidenreich reflexartig die grässlichen alten Männer hervorsucht, wenn ihr was nicht passt oder sie was nicht versteht, wird der emphatische Karl-May-„Kritiker“ sofort den Deutschlehrer als „Gegenargument“ anführen. Und Goethe zitieren. (Nebenbei gesagt: Dass man mit 20 über „die Lehrer“ herzieht, ist wohl normal. Irgendwann jenseits der 30 sollte man mit seiner eigenen Schulzeit Frieden geschlossen haben, finde ich.)
Wehe auch, man wagt es, Karl May eine problematische Persönlichkeit zu unterstellen. Man wird sofort zu hören bekommen, dass man so gar nichts von May verstehe. (Und es kommt dem emphatischen Kritiker nicht darauf an, den solcherart „kritisierten“ Text richtig zu lesen und in den richtigen Zusammenhang zu stellen. Man hat den Heiligen May beschmutzt, und das genügt, ex cathedra seine Bulle zu schmettern und sein Gegenüber wie einen Schuljungen herunterputzen zu wollen. [Wenn allerdings praktisch dasselbe in einem Zeitungsinterview von einem stellvertretenden Vorsitzenden und Professor der Literatur gesagt wird, schweigt der Emphatiker vorsichtshalber.])
Ach ja ... fast hätt’ ich’s vergessen: Natürlich schreibt der Emphatiker keine Kritiken. Auch in seinem höchsteigenen Selbstverständnis und –gefühl nicht. Nur, was er wirklich schreibt, könnte ich nicht sagen ...
![zwinkern :wink:](./images/smilies/icon_e_wink.gif)
Grüsse
sandhofer