Liebe Forumleser,
die schön und ansprechend gestaltete Neuausgabe des Buches von Hermann Wohlgschaft scheint - erfreulicherweise - die Gemüter zu bewegen, und durchaus anregend zu lesen ist die sehr sachliche Diskussion zwischen Rüdiger Wick und Dr. Wohlgschaft in den verschiedenen "Forum"-Beiträgen vom Dezember. Hierzu hätte ich nur eine Richtigstellung. In seinem Beitrag vom 5.12.05 nennt Herr Wick einige Beispiele für "Kälte, Zynismus, Pessimismus, Nihilismus bei Karl May", und er bringt u.a. das Beispiel aus dem "Verlorenen Sohn", nämlich
"eine Stelle, wo ein Mann auf den Kirchhof geht, um dort verbittert und mutterseelenallein zu verrecken".
Aus den weiteren Angaben ist zu erkennen, welche Stelle Herr Wick meint. Er weiß leider nicht mehr, wo das steht und kann sich nur dunkel erinnern. Deshalb sei ihm doch herzlich empfohlen, wieder einmal einen Blick in die Bücher Karl Mays zu tun. Denn die besagte Szene ist eine der menschlich ergreifendsten, die Karl May je geschaffen hat, nämlich der Tod des alten Schreibers Beyer. Dieser war durch eine Intrige zu Unrecht ins Gefängnis gekommen, dann auf Kaution freigelassen worden und kommt nach Hause in das Heimatdorf. Dort findet er seine Kinder gut untergebracht bei Familie Hauser, beobachtet sie durch einen Spalt im Fensterladen (Vater Hauser trägt gerade das Gedicht vom "treuen Vaterauge" vor). Beyer macht sich auf den Weg zum Friedhof, wo er im Leichenhaus seine verstorbene Frau Martha findet. Er nimmt sie noch einmal zärtlich in die Arme und stirbt mit Worten des Gottvertrauens und des Segens für seine Frau.
(Nachzulesen im "Verlorenen Sohn", Olms-Reprint Bd. 2, S. 611, HKA, Bd. 2, S. 840, oder auch in der Bamberger Ausgabe, Bd. 76 "Der Eremit", S. 322).
Dies kleine Beispiel zeigt, wie bedenklich es ist, aus dem Gedächtnis zu zitieren, denn wie leicht verschiebt sich manches in der Erinnerung. Ich werde mich natürlich hüten, Herrn Wick der Lüge zu bezichtigen, nur weil er aus dem Gedächtnis heraus falsch referiert (denn die besagte Szene zeigt weder Kälte, noch Zynismus, Pessimismus oder Nihilismus, sondern genau das Gegenteil: zwar Trauer, aber auch tiefe Gottergebenheit). Ihm hat einfach das Gedächtnis einen Streich gespielt.
Aber sollten wir dies nicht auch Karl May zugestehen? Wenn ich die "Lügen"-Diskussion der letzten Wochen im Forum verfolge, dann kann ich nur noch den Kopf schütteln. Das läuft auf die Unterstellung hinaus, Karl May habe grundsätzlich gelogen, wenn er den Mund aufgemacht oder zur Feder gegriffen habe, und man müsse mühsam versuchen, hier und da ein Körnchen Wahrheit zwischen seinen Lügen zu finden. Dies ist, etwas polarisierend formuliert, die Quintessenz verschiedener Beiträge.
Hermann Kants viel strapazierte Satz vom "herrlichen sächsischen Lügenbold" taucht natürlich auch wieder auf, obwohl dieser Ausspruch doch ganz anders gemeint war. Wenn es um eine wunderbar erzählte, phantasievoll ausgeschmückte Geschichte geht, so heißt es im Plattdeutschen, diese sei "lögenhaft to vertellen" (lügenhaft zu erzählen), und genau so habe ich immer die Worte Hermann Kants aufgefaßt. Kant bezieht sich bestimmt nicht auf Äußerungen Mays über Emma Pollmer, Heinrich Münchmeyer oder Rudolf Lebius, sondern auf Shatterhand und Hadschi, Winnetou und Geierschnabel. Auf Äquatorsonne und Präriewind, aber nicht auf "Mein Leben und Streben". Allenfalls könnte man hierbei noch an die Old-Shatterhand-Legende der neunziger Jahre denken. Aber diese Geschichten und diese Fotos waren ein Rollenspiel, in das Karl May wohl zuerst durch die "Hausschatz"-Redaktion gedrängt wurde (Herr May konnte keinen Beitrag liefern, da er sich gerade auf Reisen befindet...), dann natürlich durch die begeisterten Leserscharen. Und er hat dieses Rollenspiel - offensichtlich durchaus mit Wohlgefallen - mitgemacht. Später ist ihm das alles dann heftig und andauernd um die Ohren geschlagen worden. Als Rechtsanwalt Bredereck bei der Moabiter Gerichtsverhandlung 1911 daraus "pathologische Lügenhaftigkeit" schließen wollte, sprach Landgerichtsdirektor Ehrecke Sätze, die heute noch Gültigkeit haben:
"Aber ein Verbrechen wären doch solche phantastischen Dinge bei einem Dichter nicht. Und ich halte Herrn May für einen Dichter."
(zitiert nach Jahrbuch der KMG 1970, S. 29).
Robert Müller, der feinfühlige frühexpressionistische Dichter und Initiator
von Karl Mays Wiener Vortrag 1912, kommentierte diese Sätze:
"Diese Worte, die einen Richter als Mensch und Dichter ehren, sind bei dem letzten großen Ehrenbeleidigungsprozeß in Berlin, den Karl May gegen seinen Gegner gewann, gefallen. Wer sich das jugendliche in schönen Affekten befangene Gemüt auch noch als Richter bewahrt hat, ist auch ein Stück Dichter geblieben..."
(Der Brenner, Heft 17/1912, hier zitiert nach Abdruck in Jahrbuch der KMG 1970, S. 98, sowie Bamberger Bd. 34 "Ich", ab 38. Aufl., S. 312).
Wenn Ehrecke damals trotz allem, was während der Moabiter Verhandlung gegen May zur Sprache kam, ihn für so glaubwürdig hielt, daß er Lebius zu einer Geldstrafe verurteilte, so sollte das doch zu denken geben.
Ich selbst bin überzeugt davon, daß Karl May bei Niederschrift von "Mein Leben und Streben" von dem Wunsch getragen war, ein ehrliches Bekenntnis abzulegen über seine Vergangenheit, sich Rechenschaft zu geben über sein Denken und Wollen. Daß sich manches in seiner Erinnerung verschoben hat, daß er manches - vor allem im Hinblick auf die Straftaten - eher verschwommen schildert, kann verschiedene Gründe haben. Karl May hat ja nie, außer auf der Orientreise, Tagebuch geführt, wie es z.B. Thomas Mann über Jahrzehnte hin getan hat. Und so mußte er alles aus der Erinnerung hervorholen.
Vor wenigen Wochen erhielt ich von meiner 86-jährigen Mutter eine dicke Mappe mit Briefen, die ich selbst in den sechziger, siebziger und achtzigen Jahren an meine Eltern geschrieben hatte und die sie aufbewahrt hat. Mit großem Vergnügen las ich darin. Manches, was ich da erzählte, ist mir heute noch gut in Erinnerung, manches hatte ich total vergessen, und erst durch die Lektüre fiel es mir wieder ein. Und manches hatte ich völlig anders in Erinnerung, als ich es dann in meinem eigenen Brief lesen mußte. - Und so kann ich mir gut vorstellen, daß auch Karl May, wenn er auf fast 70 Lebensjahre zurückblickte, manches etwas anders in Erinnerung behalten hat, als es sich damals wirklich abspielte.
Euchar Albrecht Schmid, der im Sommer 1910 Karl May besuchte, erinnert sich:
"...gerade damals schrieb er unter bittersten Seelenqualen seine Selbstbiographie ... Ich habe den greisen Mann weinen sehen, als in der Pressefehde schließlich sogar das Andenken seines unbescholtenen Vaters angetastet wurde und als man seine ebenfalls längst verstorbene Mutter herabzuwürdigen suchte, weil sie eine - Hebamme war."
(zitiert nach Anhang zu Karl May, Bd. 34 "Ich", 38. Aufl., S. 330).
Sollte Karl May da wirklich nur Theater gespielt haben? Sollte er nur eine raffinierte Lügengeschichte ersonnen haben, um das Gericht an der Nase herumzuführen? Bei aller kritischen Distanz - aus heutiger Sicht – erscheint mir das doch nicht sehr wahrscheinlich.
Karl May war ja - zumindest im Alter - nie mit einem fertigen Werk recht zufrieden. Deshalb immer die Hinweise auf sein geplantes "eigentliches Werk". Das erste dieser eigentlichen Werke sollte ja "Babel und Bibel" sein. Und dann merkte er, daß es doch nicht so gelungen war, wie er es sich vorgestellt hatte (und vor allem, daß das Publikum eher ablehnend oder gleichgültig reagierte). Und so degradierte er es plötzlich zum "Knüppel zwischen die Beine meiner Gegner" (an Fehsenfeld - 11.12.1908). Und die große Lebensbeichte "Mein Leben und Streben" (ursprünglich sollte sie ja heißen "Am Marterpfahl und Pranger") zerbröselte im achten Kapitel immer mehr zu einer Abwehrschrift gegen Lebius (erst im Schlußkapitel fand er zum alten Konzept zurück), und so kam es zu der abwertend klingenden Äußerung gegenüber Fehsenfeld (14.11.1910), das Buch sei nur gedacht, die Prozesse zu gewinnen. Nein, dafür war es ursprünglich sicherlich nicht gedacht. Aber selbst wenn es so wäre -: daraus zu schließen, alles sei darin Lüge, ist wohl etwas abwegig. Zwar muß man sich nicht vor Gericht selbst belasten, aber was man sagt oder schreibt, sollte doch der Wahrheit entsprechen.
Noch vieles ließe sich ausführen zu einigen "Lügen"-Vorwürfen, die hier zu lesen sind, und ich bin gern bereit, mich an der Diskussion zu beteiligen, doch für heute sei's genug.
Ekkehard Bartsch