Oder dies (vorher im Wien-Teil):
Der Pianist verkündete laut, daß Signor Criquolini ein Trinklied vortragen werde. Der Sänger lehnte sich nachlässig mit dem Arme auf das Piano, wartete, bis das Vorspiel zu Ende war und begann dann die 'Rheingauer Glocken' vom Emil Ritterhaus:
»Wo's guten Wein im Rheingau giebt,
Läßt man den Mund nicht trocken.
Drum, wer ein schönes Tröpfchen liebt,
Beacht den Klang der Glocken!
Merk, ob Du hörst den vollen Baß
Ob dünn und schwach der Ton summ'.
Wo edle Sorten ruhn im Faß,
Da klingt es: Vinum bonum!
Vinum bonum, vinum bonum!«
Er hatte halblaut begonnen, sichtlich nachlässig, als ob ihm an dem Beifalle der Anwesenden ganz und gar nichts liege. Von Wort zu Wort aber färbte sich die Stimme energischer. Er richtete sich höher auf. Sein prachtvoller, kräftiger Tenor begann, den Saal zu füllen, und als er dann 'vinum bonum', den Klang der Glocken nachahmte, da klang es wirklich wie Glockengeläut, so metallisch, so tief und brausend, als ob es vom hohen Thurme hin über den Rheingau schalle.
Dann kam die zweite Strophe:
»Doch wo die Rebe schlecht gedeiht,
Muß man die Aepfel pressen;
Da wird gar klein die Seligkeit
Dem Zecher zugemessen.
Der Trank ist matt, das Geld ist rar;
Man spart an Glock und Klöppel -
Und von dem Thurm hört immerdar
Man Eins nur: Aeppelpäppel!
Aeppelpäppel, Aeppelpäppel!«
Man hätte meinen sollen, daß bei diesen humoristischen Zeilen sich die Pracht seiner Stimme nicht documentiren könne, aber grad das Geläute 'Aeppelpäppel' wurde in einer solchen Tonhöhe vorgetragen und klang doch so glockenrein aus tiefster Brust, es war eine so prachtvolle Nachahmung, daß man glaubte, in Wirklichkeit drei kleine Glöcklein eines armen Dorfes läuten zu hören. Als er diese Strophe geendet hatte, wurde er mit einem rauschenden Beifalle belohnt. Er zuckte, anstatt sich dankend zu verbeugen, leicht die Achsel, als ob er sagen wolle: Hört nur erst weiter, bevor Ihr applaudirt. Dann trat er einen Schritt vor und fuhr fort:
»Mein Sohn, wo Du den Ton vernimmst,
Da kann Dein Herz nicht lachen,
Da rath ich, daß Du weiter schwimmst
In dem bekränzten Nachen.
Doch wo das Baßgeläut erscholl,
Da kehre nicht, mein Sohn, um,
Da labe Dich, der Andacht voll,
Und singe: Vinum, bonum,
Vinum, bonum, vinum, bonum!«
Die Aufgabe, welche dieses Lied an den Sänger stellte, war die Nachahmung des Glockengeläutes. Jetzt ließ Anton ein tiefes, melodisches Läuten erschallen, daß man meinte, die Glocken schwingen sehen zu müssen. Die Nachahmung war eine wirklich meisterhafte, und es wurde ihm dafür ein ungeheurer Applaus zu theil. Man rief in stürmische Weise Dacapo. Der Pianist begann auch bereits die Einleitung, da er glaubte, daß der Sänger diesen Beifall doch sicher belohnen werde. Anton aber gab ihm mit der Hand ein verneinendes, unwilliges Zeichen, nickte den Zuhörern leicht zu und schritt zum Saale hinaus. Der Pianist brach natürlich ab und folgte ihm verlegen.
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Von alledem mag man ja nun halten was man will, aber da ist m.E. sehr viel drin.
Zunächst einmal ist nicht zu übersehen, dass Karl May etwas von Gesang verstand, so unfreiwillig komisch er sich auch auszudrücken beliebt („so tief und brausend, als ob es vom hohen Thurme hin über den Rheingau schalle“), aber er versteht etwas von Ausstrahlung, Charisma, von „Füllen“ eines Textes und einer Melodie, von Beseeltheit und Kraft, von „künstlerischer Intelligenz“, soviel dürfte hoffentlich klar sein.
Und den Ausdruck „Aeppelpäppel“, den ich zuvor nie gehört hatte, werde ich nun nie wieder vergessen, das ist ein geistiger oder auch Bewusstseins-Zustand, das ist, sozusagen, das abendländische vorläufige Endergebnis, man gehe offenen Auges durch die Straßen und durchs Leben, überall Aeppelpäppel.
Und diese „prachtvolle Nachahmung“, „daß man glaubte, in Wirklichkeit drei kleine Glöcklein eines armen Dorfes läuten zu hören“,
so schreibt Karl May des öfteren, wenn er die Leut’ so schildert, und er ist sich m.E. dessen meistens durchaus bewusst, er kann aber, nochmal durchaus, auch „vinum bonum“. Daß man meint, die Glocken schwingen sehen zu müssen.
Die Formulierung „Ironiker mit scharfem Verstand“ (von Marlies zitiert) trifft es m.E. wirklich sehr gut.